Sie nahmen Jesus aber, und er trug selber das Kreuz und ging hinaus zur Stätte, die da heißt Schädelstätte, auf hebräisch Golgatha. Dort kreuzigten sie ihn. (Joh 19,17f) In St. Laurentii hängt der Gekreuzigte an einem Kreuz hoch über dem Chorraum. Wer ihn ansieht, sieht das Leiden des Jesus von Nazareth, seinen auf die Brust gefallenen Kopf, sieht seine Hände und Füße auf das Kreuz genagelt, seine Wunden, seinen Schmerz. Wer ihn ansieht, kann aber auch die ungezählten Kreuze sehen, die Menschen einander errichtet haben und errichten, kann die Karfreitage ohne Zahl ahnen, in denen Menschen wie Jesus am Kreuz geschrien haben: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? (Mt 27,46) In diesem Schrei Jesu ist Er selbst allen unter uns Menschen nahe, deren Angst und Not übergroß ist. Auch jetzt in diesen Tagen, hier bei uns und in anderen Ländern, wo das Virus sich ungehemmt verbreitet, die Menschen in den Flüchtlingslagern, Townships, Elendsvierteln sich nicht schützen können, das Gesundheitswesen desolat ist und die Bevölkerung von autokratischen Politikern allein gelassen wird in ihrer Not.
Außer diesem Schrei Jesu sind uns noch sechs weitere seiner Worte am Kreuz in den Evangelien überliefert. Eines richtet er an zwei Menschen, die unter seinem Kreuz stehen, seine Mutter und den Jünger, der ihm besonders nahe war; Menschen, denen sein Leiden das Herz zerreißt. Zu Maria sagt Jesus: Frau, siehe, das ist dein Sohn! Danach spricht er zu dem Jünger: Siehe, das ist deine Mutter. (Joh 19,26) In all ihrer Angst und Not, in ihrer Verlassenheit weist er sie aufeinander, verbindet sie miteinander, übergibt sie einander in ihre Liebe und Verantwortung. Und auch uns, wenn wir unter seinem Kreuz stehen, weist er in die Verantwortung und Liebe füreinander.
„Im Sterben Jesu ist unser Leben verborgen“, hat Dietrich Bonhoeffer gesagt. Wie das zu verstehen und zu glauben ist, dafür braucht es wohl ein Leben lang – und auch die Einsicht, daß wir immer nur einen winzigen Teil von dem erfassen können, was in unserer Liturgie denn auch als „Geheimnis des Glaubens“ benannt wird: „Deinen Tod, o Herr, verkünden wir…“.
Jesu Worte am Kreuz sind Worte vom Leben für uns. In diesen Tagen hören wir das vielleicht besonders in dem Wort, das uns in die Gemeinschaft miteinander stellt. Aber eben nicht nur miteinander. Auch mit Ihm selbst. Im „Geheimnis des Glaubens“ heißt es weiter: „.. und deine Auferstehung preisen wir, bis Du kommst in Herrlichkeit.“ Das Kreuz in St. Laurentii ist ein sogenanntes Triumphkreuz, hoch oben über dem Altarraum. Wer es ansieht, sieht den Gekreuzigten zugleich schon als den, der aufersteht. Und der uns als Auferstandener, als lebendiger Christus, zusagt: Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende. (Mt 28,20)
Pastorin Dr. Wiebke Bähnk