„Er ging hin in die Wüste eine Tagereise weit und kam und setzte sich unter einen Ginster und wünschte sich zu sterben und sprach: Es ist genug, so nimm nun, Herr, meine Seele…“. Und er legte sich hin und schlief unter dem Ginster.“ (1. Kön 19,4f) Von einem alttestamentlichen Propheten, Elia, wird hier erzählt. Er ist voller Angst, müde, erschöpft, deprimiert, möchte am liebsten dort, wo er sich hingelegt hat, liegen bleiben, so todmüde ist er. An diese Geschichte habe ich in den vergangenen Tagen oft denken müssen, wenn mir Menschen erzählt haben, wie es ihnen mit den Veränderungen dieser Zeit geht: Mit der Dauer der Einschränkungen, damit, Angehörige nicht sehen zu können, Beruf und die Fürsorge für kleine Kinder unter einen Hut bringen zu müssen, Angst um die eigene Existenz oder um den Zusammenhalt in der Gesellschaft zu haben, in Ungewißheit und Sorgen um die Zukunft zu leben. Von großer Müdigkeit und Erschöpfung höre ich, seelischer und körperlicher. Auch wenn diese bei Elia andere Gründe gehabt haben, so wie der todmüde Prophet unter dem Ginster, denke ich, fühlen sich in diesen Tagen viele Menschen.
Elia erlebt, daß ein Engel ihn anrührt. Der flämische Maler Dirck Bouts hat diesen Moment in großer Zärtlichkeit ausgemalt. Ein klassisch weiß gewandeter Engel mit prächtigen Flügeln berührt Elia sanft an der Schulter, neigt sich ihm zu. Auch die andere Hand des Engels weist auf den erschöpft am Boden liegenden Propheten. Sie scheint die Worte des Engels zu unterstreichen: „Steh auf und iss.“ Das Brot, das Elia neue Kraft geben soll, der Krug mit Wasser, sind links von seinem Kopf dargestellt, nicht sehr auffällig, fast im gleichen Farbton wie der Erdboden. Vielleicht weil es mehr noch als um das Brot um die Worte des Engels geht, der ein zweites Mal zu Elia sagt: „Steh auf und iss! Denn du hast einen weiten Weg vor dir!“
Auf das Wort des Engels hin steht Elia auf und geht, nimmt seinen Weg wieder unter die Füße. Welches Wort brauchen wir, um aus Müdigkeit und Erschöpfung, aus Angst heraus aufzustehen, zu gehen – in eine Zukunft, von der wir nicht einmal ahnen, wie sie aussehen wird? Und wer sagt es uns, dieses Wort? Die Geschichte von Elia erzählt davon, daß Gott den Müden und Erschöpften einen Engel schickt. „Manchmal brauchst du einen Engel, der dich schützt und führt. Gott schickt manchmal einen Engel, wenn er deine Sorgen spürt“, so heißt es in einem Lied von Siegfried Fietz.
Nur ob der Engel, der zu uns kommt, wenn wir am Boden sind, so aussieht wie bei dem flämischen Maler? Engel müssen nicht „Männer mit Flügeln“ (Rudolf Otto Wiemer) sein, sie können auch ganz anders aussehen, nur zu ahnen oder zu spüren sein. Oder einer von uns lässt sich von Gott in den Dienst nehmen und sagt einem Müden das Wort, das ihn wieder aufrichtet: „Steh auf und iss! Denn du hast einen weiten Weg vor dir“ oder auch „Fürchte dich nicht, denn Gott ist bei dir“. „Werde ich für Dich, wirst Du für mich ein Engel sein?“ Auch das kann gut sein.
Pastorin Dr. Wiebke Bähnk