04. Juni 2020 · Kategorien: Andacht

Pfingstsonntag fand der letzte von fünf Gottesdiensten im Autokino Itzehoe statt. Daß es diese Gottesdienste gab, war ein „Geschenk“ des Betreibers des Autokinos. Er war in einer Itzehoer Kirchengemeinde aufgewachsen, von einem Kollegen dort konfirmiert worden. Und bot ihm an, daß im Itzehoer Autokino doch auch Gottesdienste gefeiert werden könnten – unter Wahrung aller Abstandsregeln. Und in ihren eigenen Autos singen könnten die Teilnehmenden sogar auch!

Für viele, die diese Gottesdienste mitfeierten, in ihren Autos sangen, beteten, sich von den Filmausschnitten und ihren Auslegungen berühren ließen, waren das besondere Erfahrungen. Für mich als eine aus dem Kreis derer, die Gottesdienste mit vorbereiteten, auch. Während des Pfingstgottesdienstes ging mir durch den Kopf, daß ich nie vorher gedacht hätte, daß ich jemals an einem solchen Gottesdienst teilhaben würde, daß sich darin für mich eine im wörtlichen Sinne ungeahnte Möglichkeit zeigt.

Eine solche scheint mir besonders zu Pfingsten zu passen, zur Ausgießung des Heiligen Geistes auf die Jüngerinnen und Jünger. Keiner von ihnen wird vorher jemals gedacht haben, daß die Kraft des Geistes sie buchstäblich auf die Straße treiben würde, zur Verkündigung von Jesus Christus und zu einer Weise der Verkündigung, die offensichtlich von den Zuhörenden verstanden und aufgenommen wurde. Keine wird vorher geahnt haben, welchen Mut sie haben würden und schon gar nicht, welche Kreise diese Verkündigung einst ziehen würde. Pfingsten könnte man so auch als „Fest der ungeahnten Möglichkeiten Gottes“ bezeichnen, zu denen Er Menschen durch seinen Geist bewegen will und kann.

Der Zukunftsforscher Matthias Horx hat im Zusammenhang der Corona-Krise vorgeschlagen, die Haltung eines „Possibilisten“ einzunehmen, eines Menschen, der darauf schaut, was in den sich verändernden Umständen möglich ist und vor allem neu möglich wird. Diesen Begriff leihe ich mir einfach mal und übertrage ihn auf alle, die auf die Möglichkeiten Gottes schauen und mit ihnen rechnen. Auch damit, daß dieses eben vorher völlig ungeahnte und ungekannte Möglichkeiten sein können, daß sie auch das, was wir uns auszudenken vermögen, weit übersteigen können. Wenn wir denn der Kraft des Geistes vertrauen, die uns die Augen öffnet für die Fülle der Möglichkeiten Gottes, den Mut schenkt, sie wahrzunehmen, und die innere Haltung, sie in Gottes Sinn zu gestalten und zu leben. In diesem Sinne zu den „Possibilisten“ zu gehören, das wünsche ich uns allen – nicht nur in diesen Tagen.

Pastorin Dr. Wiebke Bähnk

27. Mai 2020 · Kategorien: Andacht

Einige Bewohnerinnen und Bewohner des Seniorenheims St. Josef sitzen im Innenhof des Heims, wir feiern zusammen Gottesdienst unter freiem Himmel – unter Wahrung der Abstandsregeln, versteht sich. Und auch wenn es ein wenig seltsam ist, daß wir so weit auseinander sitzen, ich bin dankbar, daß wir wieder an einem Ort zusammen sein können, uns sehen, hören, miteinander beten. Genauso habe ich es empfunden, als wir an den drei vergangenen Sonntagen wieder in St. Laurentii Gottesdienst feiern, gemeinsam auf Gottes Wort hören, beten und uns an der Musik erfreuen konnten – auch wenn der Gemeindegesang uns sehr fehlt.

Verkündigung durch Wort und Musik kann auch durch einen Fernseh-Gottesdienst geschehen oder eine Video- oder Audioaufnahme. Viele von uns haben in den letzten Wochen die Fülle und Vielfalt der angebotenen Gottesdienste kennen gelernt, dadurch auch über die Gemeindegrenzen hinaus geschaut. Aber Gottesdienst ist mehr als Hören auf einen Prediger, eine Predigerin, auf die oft virtuose Musik. Gottesdienst ist gemeinsame Antwort auf das Evangelium, ist gemeinschaftliches Gebet, ist Zusammensein unter der Zusage Jesu Christi: Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, bin ich mitten unter ihnen. (Mt 18,20) Wer an einem Ort, zu einer Zeit mit anderen zum Gottesdienst zusammenkommt, kann außerdem wahrnehmen, wie es einem anderen geht, kann die gerade in diesen Zeiten so wichtige Frage stellen „Wie geht es Dir?“ und einen Augenblick zuhören. Gottesdienst – das sind eben auch stärkende Worte untereinander, Trost, Anteilnahme und Beistand, sind geteiltes Leid und verdoppelte Freude.

Ein bißchen erschwert ist all das in diesen Zeiten, wenn wir mit 2 m Abstand in der Kirche sitzen, die Hälfte des Gesichts mit Masken in vielfältigster Ausführung bedeckt; aber ein freundlicher Gruß, eine zugewandte Geste – die Sitte der Verbeugung voreinander mit der Hand auf dem Herzen oder den vor der Brust zusammengelegten Händen ist mir in den vergangenen Wochen lieb geworden – , ein anteilnehmendes Wort, auch ein Gespräch sind immer möglich. Und genauso ein liebevoller Blick, ein Lächeln mit den Augen, das von Herzen kommt. Und das dem anderen einfach sagt „Wie schön dich zu sehen.“ Oder mit den Worten von Hannes Wader: „Nun, Freunde, lasst es mich einmal sagen: Gut, wieder hier zu sein, gut euch zu sehn. Mit meinen Wünschen, mit meinen Fragen fühl ich mich nicht allein. Gut euch zu sehn. Und weiß ich heute auf meine Sorgen und Ängste keine Antwort mehr. Dann seid ihr da, schon trag ich morgen an allem nur noch halb so schwer.“

Pastorin Dr. Wiebke Bähnk

23. Mai 2020 · Kategorien: Andacht

„Kyrill“ hieß der legendäre Sturm, der vor dreizehn Jahren über Europa hinweg fegte, das öffentliche Leben kurzzeitig zum Erliegen brachte und in den Wäldern die Bäume zu Hunderttausenden entwurzelte. Der „Sturm“, der jetzt seit Wochen über uns hinwegbraust und tost, hat viele Namen. „Corona“, „Pandemie“, „Kontaktverbot“, „Isolation“, „Einsamkeit“, „Übersterblichkeit“, „Angst“ und so manche andere. Anders als bei „Kyrill“ scheint die Windstärke auch nicht abzunehmen, werden die vielfältigen Verunsicherungen eher stärker, krude Verschwörungstheorien breiten sich auch, Gegner und Befürworter der jeweiligen politischen Schritte stehen sich gegenüber. Und blasen sich den „Sturm der Entrüstung“ gegenseitig ins Gesicht.

Wenn Stürme tosen, kommt es bei Bäumen auf das Wurzelwerk an. Und worin es gründet. Je kräftiger die Wurzeln und je fester das Erdreich, in dem die Wurzeln Halt, Wasser und die lebensnotwendigen Nährstoffe finden, desto größer die Chance, daß ein Baum einen Sturm übersteht. Auch bei uns Menschen kommt es auf unsere Wurzeln an und worin sie Halt finden. Schon im Alten Testament wird das Bild des Baumes auf uns Menschen übertragen: Wie ein Baum, gepflanzt an Wasserbächen, so ist der, der seine Zuversicht auf Gott setzt und sich an ihm und seinen Worten orientiert, so heißt es im 1. Psalm. Gott und seine Worte sind also der Wurzelgrund, in dem wir Halt finden können. Wenn der eine dies sagt, der andere das, und wir erleben, daß wir uns innerlich hin- und hergezerrt fühlen von Meinungen, Unsicherheiten, Erwartungen.

Im Epheserbrief des Neuen Testaments wird der Grund, in dem unsere Wurzeln Halt finden, mit einem einzigen Wort bezeichnet: Liebe. Ihr seid in der Liebe eingewurzelt und gegründet. (Eph 3,17) In der, die uns Gott gezeigt hat durch Jesus Christus, der das Bild der Liebe Gottes unter uns ist. Und in der, die sein Heiliger Geist als größte der Kräfte in uns wirken will. Vielleicht können wir uns einfach vorstellen, daß unsere Wurzeln direkt in die Liebe hineinreichen – und wie ein Baum durch seine Wurzeln Wasser und Nährstoffe in seine Adern zieht -, so gelangt die Liebe in unsere Seele, unseren Geist, unser Herz. Und wir können sie weitergeben durch das, was wir sagen, tun, wie wir miteinander umgehen, gerade auch in den Auseinandersetzungen und Herausforderungen dieser Tage.

Wenn unsere Wurzeln festen Halt in dem Wurzelgrund der Liebe Gottes haben, dann heißt das auch: Wir wissen um unseren Wert als geliebte Kinder Gottes, der an nichts sonst hängt, auch nicht an Alter, Gesundheitszustand und Systemrelevanz. Wir können standhalten, widerstehen, wo diese Einsicht infrage gestellt wird, wir können einstehen dafür, daß die Liebe das Maß aller Dinge ist und bleibt. Wenn unsere Wurzeln festen Halt haben, dann können wir auch anderen Halt geben. Und weitersagen: Ihr seid in der Liebe Gottes eingewurzelt. Mögen die Stürme noch so tosen.

Pastorin Dr. Wiebke Bähnk

21. Mai 2020 · Kategorien: Andacht

„Und es geschah, als Jesus die Jünger segnete, schied er von ihnen und fuhr auf gen Himmel.“ (Lk 24,51) Heute ist Christi Himmelfahrt. Wir hören von einem Abschied, einer Trennung. Jesus trennt sich von seinen Jüngerinnen und Jüngern, ist nicht mehr bei ihnen, sichtbar, hörbar, greifbar. Dieser Abschied wird sie geschmerzt haben, dieser Abstand zwischen Erde und Himmel, den sie nun aushalten mussten. Wie bitter Trennung und Abstand sein können, erfahren viele von uns in diesen Tagen, in den Senioren- und Pflegeheimen, in den Krankenhäusern, dort, wo Familienmitglieder sich nicht sehen, nicht einmal in Krankheit und Sterben begleiten können.

Im Zeichen des Abschieds könnte Christi Himmelfahrt ein bitteres, trauriges Datum sein. Aber die Himmelfahrt steht in der Spannung zwischen Weggehen und Bleiben, zwischen Trennung und bleibender Nähe Jesu Christi. Denn der, der da gen Himmel fährt, verspricht zugleich: „Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“ (Mt 28,20) Nicht in der Weise, wie er es vorher war. Sondern durch die Kraft seines Heiligen Geistes: „Ihr werdet die Kraft des Heiligen Geistes empfangen, der auf euch kommen wird“, so sagt Jesus es allen Jüngern zu. Und denen, die in seinem Namen zusammen kommen, die sich vom Geist Gottes rufen lassen, verspricht er: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, bin ich mitten unter ihnen.“ (Mt 18,20)

Himmelfahrt heißt also: Jesus Christus geht auf die eine Weise weg, um auf eine andere bei uns bleiben zu können. In unserer Gemeinschaft, durch seinen Heiligen Geist, der in uns so wunderbare Dinge wirkt wie die Freude, die Freundlichkeit, den Frieden und, nicht zu vergessen, die Liebe. Der Philosoph Sören Kierkegaard hat gesagt: „Das mächtigste Wort, welches je ein Mensch gesagt hat, ist das Wort des Liebenden: Ich bleibe.“ Jesus Christus hat das zu uns gesagt. Und wir können es sagen und leben aus der Kraft seines Geistes. In diesen Tagen wird unser „Bleiben“ bei Menschen, die uns anvertraut sind, die zu uns gehören, oft anders aussehen als sonst, werden wir nicht beisammen sein an einem Ort, uns nicht ansehen können, nicht die Hand halten. So weh das tut, wir dürfen hoffen, daß auch unser „Bleiben“ in Gedanken, in Worten am Telefon, geschriebenen Zeilen, im Gebet, in tausend kleinen Zeichen ausdrückt, daß Abstand und Nähe, Trennung und bleibende Verbundenheit tatsächlich zusammen kommen können. Nicht nur im Himmel, auch auf Erden.

Pastorin Dr. Wiebke Bähnk

16. Mai 2020 · Kategorien: Andacht
Elia unter dem Wacholder (Dirck Bouts)

„Er ging hin in die Wüste eine Tagereise weit und kam und setzte sich unter einen Ginster und wünschte sich zu sterben und sprach: Es ist genug, so nimm nun, Herr, meine Seele…“. Und er legte sich hin und schlief unter dem Ginster.“ (1. Kön 19,4f) Von einem alttestamentlichen Propheten, Elia, wird hier erzählt. Er ist voller Angst, müde, erschöpft, deprimiert, möchte am liebsten dort, wo er sich hingelegt hat, liegen bleiben, so todmüde ist er. An diese Geschichte habe ich in den vergangenen Tagen oft denken müssen, wenn mir Menschen erzählt haben, wie es ihnen mit den Veränderungen dieser Zeit geht: Mit der Dauer der Einschränkungen, damit, Angehörige nicht sehen zu können, Beruf und die Fürsorge für kleine Kinder unter einen Hut bringen zu müssen, Angst um die eigene Existenz oder um den Zusammenhalt in der Gesellschaft zu haben, in Ungewißheit und Sorgen um die Zukunft zu leben. Von großer Müdigkeit und Erschöpfung höre ich, seelischer und körperlicher. Auch wenn diese bei Elia andere Gründe gehabt haben, so wie der todmüde Prophet unter dem Ginster, denke ich, fühlen sich in diesen Tagen viele Menschen.

Elia erlebt, daß ein Engel ihn anrührt. Der flämische Maler Dirck Bouts hat diesen Moment in großer Zärtlichkeit ausgemalt. Ein klassisch weiß gewandeter Engel mit prächtigen Flügeln berührt Elia sanft an der Schulter, neigt sich ihm zu. Auch die andere Hand des Engels weist auf den erschöpft am Boden liegenden Propheten. Sie scheint die Worte des Engels zu unterstreichen: „Steh auf und iss.“ Das Brot, das Elia neue Kraft geben soll, der Krug mit Wasser, sind links von seinem Kopf dargestellt, nicht sehr auffällig, fast im gleichen Farbton wie der Erdboden. Vielleicht weil es mehr noch als um das Brot um die Worte des Engels geht, der ein zweites Mal zu Elia sagt: „Steh auf und iss! Denn du hast einen weiten Weg vor dir!“

Auf das Wort des Engels hin steht Elia auf und geht, nimmt seinen Weg wieder unter die Füße. Welches Wort brauchen wir, um aus Müdigkeit und Erschöpfung, aus Angst heraus aufzustehen, zu gehen – in eine Zukunft, von der wir nicht einmal ahnen, wie sie aussehen wird? Und wer sagt es uns, dieses Wort? Die Geschichte von Elia erzählt davon, daß Gott den Müden und Erschöpften einen Engel schickt. „Manchmal brauchst du einen Engel, der dich schützt und führt. Gott schickt manchmal einen Engel, wenn er deine Sorgen spürt“, so heißt es in einem Lied von Siegfried Fietz.

Nur ob der Engel, der zu uns kommt, wenn wir am Boden sind, so aussieht wie bei dem flämischen Maler? Engel müssen nicht „Männer mit Flügeln“ (Rudolf Otto Wiemer) sein, sie können auch ganz anders aussehen, nur zu ahnen oder zu spüren sein. Oder einer von uns lässt sich von Gott in den Dienst nehmen und sagt einem Müden das Wort, das ihn wieder aufrichtet: „Steh auf und iss! Denn du hast einen weiten Weg vor dir“ oder auch „Fürchte dich nicht, denn Gott ist bei dir“. „Werde ich für Dich, wirst Du für mich ein Engel sein?“ Auch das kann gut sein.

Pastorin Dr. Wiebke Bähnk

12. Mai 2020 · Kategorien: Andacht

Bilder von Demonstranten, die ohne Wahrung der Abstandsregeln, ohne Mund-Nasen-Schutz in großer Zahl zusammen kommen, gab es am Wochenende aus mehreren Großstädten Deutschlands. Menschen mit verschiedensten Hintergründen, die eines eint: „Irgendwie“ sind sie gegen die Maßnahmen zum Schutz vor Corona. Darunter sind nicht wenige Verschwörungstheoretiker mit ihren kruden Ideen, zusammengebastelt aus zweifelhaften „Informationen“ und in eine hermetische Weltsicht eingebettet. Und natürlich macht sich auch die Rechte den Protest zunutze. Wie könnte es anders sein. Daß ausgerechnet sie allerdings meinen für die Wahrung der Grundrechte einzustehen, hat etwas Skurriles, Lachhaftes. Nur daß keinem zum Lachen darüber zumute ist. Im Gegenteil. Die hier geäußerten Parolen lassen mich an die Bitte des Königs Salomo denken, die heute passenderweise die Tageslosung in den Herrnhuter Losungen ist. Als Gott ihn fragt, was der König sich von ihm wünsche, antwortet dieser ihm: „Du wollest deinem Knecht ein weises Herz geben.“ (1. Kön 3,9)

Weisheit ist die Fähigkeit der vernünftigen Abwägung. Darin ist sie eine im wahrsten Sinne des Wortes bedachte und ruhige Tugend. Sie speist sich aus der eigenen Lebenserfahrung und aus Wissen, das durch eigene Erkenntnis und durch den Rat und die Erkenntnisse anderer Menschen entsteht. Sie weiß auch um die Begrenztheit der eigenen Einsichten, fragt deshalb dort um Rat, wo Kompetenz und die jeweils benötigten Kenntnisse zu erwarten sind. „Der Weise hört auf Rat“, so heißt es im Buch der Sprüche (Spr 12,15). Verschwörungstheoretiker und Anhänger ideologischer Weltsichten lassen sich zumeist in keiner Weise durch fachmännischen Rat von ihren Ansichten abbringen. Die Maßnahmen des Bundes und der Länder, die Äußerungen der verantwortlichen Politiker beruhen hingegen erkennbar weitestgehend auf fachlicher Beratung durch genau auf dem Gebiet der Virologie ausgewiesene Wissenschaftler. Und ebenso erkennbar auf dem Bemühen, immer wieder neu die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen abzuwägen und ihre gravierenden „Nebenwirkungen“ zu bedenken.

Sicher ist nicht jede Maßnahme „weise“. Und sicher auch nicht jede konkrete Umsetzung im Alltag. Aber Weisheit als Fähigkeit der vernünftigen Abwägung ist die Haltung, die jetzt not tut. Für jeden von uns. Denn Weisheit heißt auch, den Blick auf das Gute zu richten. „Ich will aber, daß ihr weise seid zum Guten“, fordert der Apostel Paulus die Christen auf. (Röm 16,19) Und das Gute kann nie das sein, was den einen nützt, den anderen aber gravierend schadet, nie das, was unverantwortlich mit dem Leben anderer umgeht. Oder um es mit Albert Schweitzer positiv zu formulieren: „Gut ist, Leben zu erhalten und zu fördern.“ Diesen ethischen Maßstab als grundlegend festzuhalten und auch das eigene Verhalten, die eigenen Haltungen immer wieder an ihm zu messen, mit seiner Hilfe abzuwägen – das könnte schon als ein kleines bißchen notwendige „Weisheit“ in diesen Zeiten durchgehen.

Pastorin Dr. Wiebke Bähnk

10. Mai 2020 · Kategorien: Andacht

„Wir werden einander vieles zu verzeihen haben.“ Diese für einen Minister nicht selbstverständlichen Worte sagte Jens Spahn vor einiger Zeit. Sie sind mir nicht aus dem Kopf gegangen. Denn sie machen deutlich, wie bewusst es ihm und sicher vielen anderen Entscheidungsträgern ist, daß sie immer nur aus einer begrenzten Einsicht heraus handeln und Maßnahmen verordnen können, daß alles, was an Einschränkungen und Lockerungen geschieht, Abwägungssache ist und bleibt. Und daß dabei die menschliche Fehlbarkeit zu berücksichtigen ist, daß Gutes gewollt und dabei Schwieriges, Problematisches, Beeinträchtigendes für Menschen in Kauf genommen werden muss. Gut ist, daß Entscheidungen in unserem Land nicht einsam getroffen werden, daß sie aus Beratung, Diskurs und oft auch öffentlich erkennbarer Abwägung heraus entstehen.

Und dennoch gibt es Situationen, in der sich die Frage nach den Kriterien der Abwägung, nach der Verhältnismäßigkeit, stellt: Wenn Angehörige zu ihren sterbenden Müttern, Vätern, Partnern nicht mehr ins Krankenhaus gelassen werden. Eigentlich ist Besuch bei Sterbenden für eine Person erlaubt. Aber wenn die Ärzte und Pflegekräfte, vielleicht aus Überlastung, nicht erkennen, daß jemand im Sterben liegt. Dann stirbt ein Mensch allein. Und die Angehörigen bleiben zutiefst verstört zurück. Ich habe das in diesen Wochen mehrfach in der Begleitung Trauernder miterlebt. Oder wenn Seniorenheime nur mit Verzögerung und dann äußerst restriktive Besuchskonzepte erarbeiten, Menschen in Heimen deshalb seit über zehn Wochen keinen Besuch mehr bekommen. Wenn auch alle kreativen Möglichkeiten des Sichsehens, z.B. auf der Straße vor dem Fenster, abgeblockt werden, eine vollmundig angekündigte Möglichkeit zur Videotelefonie daran scheitert, daß nicht bedacht worden ist, daß es in dem Heim kein W-Lan gibt. Und die Angehörigen nicht als Partner in der gemeinsamen Bewältigung der Situation verstanden werden – z.B. durch die Bitte, Masken zu nähen, oder die selbstverständliche Einladung, wenigstens vor dem Gartenzaun den Bewohnern zuzuwinken oder Musik zu machen – sondern als zusätzliche Zumutung. Das erlebe ich im Umgang mit dem Seniorenheim, in dem mein Vater lebt.

„Wir werden einander vieles zu verzeihen haben“. Ja. Das ist so. Vergebung ist, GottseiDank, eine der Kerndisziplinen des Glaubens. Im Predigttext für den heutigen Sonntag heißt es als Aufforderung an uns Christen: „… ertrage einer den anderen und vergebt euch untereinander, wenn jemand Klage hat gegen den andern; wie der Herr euch vergeben hat, so vergebt auch ihr.“ (Kol 3,13) Wenn ich mir bewusst mache, daß ich selbst aus der Vergebung lebe – aus derjenigen Gottes und genauso auch aus der der Menschen – stellen Sie sich nur vor, jeder würde jedem alles nachtragen: keiner von uns könnte leben -, lässt mich das anders auf die Menschen schauen, mit denen ich in solchen Situationen zu tun. Das Wissen um meine Fehlbarkeit und die geradezu Lebens-Notwendigkeit dessen, daß mir vergeben ist und wird, verändert meinen Blick auf sie. Ich trage ihnen als Personen nichts nach, kreide es ihnen nicht persönlich an. Zumindest bitte ich Gott immer wieder darum, daß Er mir das möglich macht.

„Vergebt euch untereinander“. Vergebung heißt, den anderen als Menschen anzunehmen, in aller Begrenztheit und Fehlbarkeit, die ich ja bei mir genauso sehe. Vergebung heißt aber nicht, „Ja und Amen“ zu allem zu sagen, was der andere entscheidet, tut, sagt. Infragestellung, Widerspruch, Engagement für Veränderungen, wo Regelungen das Leben von Menschen über die Maßen beeinträchtigen, tun Not. Mehr denn je. Nur im Geist der Vergebung müssen sie ausgesprochen werden, der nicht die Menschen verunglimpfen, sondern die Dinge wandeln will.

Pastorin Dr. Wiebke Bähnk

07. Mai 2020 · Kategorien: Andacht

Eine müde Woche sei es, erzählt mir ein Kollege, langsam merke er doch die Belastungen der vergangenen Wochen. Von dem stetigen Bemühen, den Dienst trotz aller Einschränkungen eben auf ganz andere Weise als bisher auszuüben. Eine Kollegin erzählt von ihrer großen Erschöpfung durch die geschlossenen Kitas und Grundschulen; zumindest ihr kleiner Sohn kann sich noch nicht länger allein beschäftigen. Wie soll da Home-Office funktionieren? Die letzten neun Wochen haben viele Menschen auch in der Gestaltung und Bewältigung ihres Alltags an ihre Grenzen gebracht, haben müde gemacht und erschöpft. Sorgen um Angehörige kommen dazu, bei mir ist es der Wunsch, endlich einmal wieder meinen Vater im Seniorenheim besuchen zu können. Das Heim, in dem er lebt, hat bislang noch keine Besuche wieder zugelassen.

Schon die alttestamentlichen Psalmbeter haben von der Müdigkeit gesprochen, die aus belastenden Lebenssituationen entsteht: „Ich bin so müde vom Seufzen„, wird da geklagt. (Ps 6,7) Von den „müden Händen“ der Menschen ist die Rede (Jes 35,3), und auch von einer Ursache der menschlichen Müdigkeit: „Du hast dich müde gemacht mit der Menge deiner Pläne.“ (Jes 50,4) Ein durchaus moderner Gedanke, der gut auch auf die letzten Wochen passen könnte. Im Alten Testament findet sich aber nicht nur die Diagnose, sondern auch ein wunderbares „Rezept“: „Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, daß sie auffahren mit Flügeln wie Adler, daß sie laufen und nicht matt werden, daß sie wandeln und nicht müde werden.“ (Jes 40,31) Auf den Herrn harrt, wer einfach auch einmal „lässt“, auf Gott vertraut, daß Er Wege eröffnet, wo wir jetzt noch keine sehen, daß Er Helfer schickt, wo wir uns gerade allein fühlen, daß wir sicher sein können, daß nichts nur an uns und unseren Tun und Laufen, an unseren Plänen und ihrer Umsetzung hängt. Das entlastet, im wahrsten Sinne des Wortes, und lässt uns zu neuen Kräften kommen.

Wer müde ist und erschöpft, braucht Stärkung und Ermutigung. Sich gegenseitig praktisch im Alltag zu unterstützen, wo es nur geht, ist eine wichtige Weise, sich das gegenseitig zu geben. Genauso aber auch sich gute Worte zu sagen, die vom Vertrauen auf Gott erzählen, der alle Müden stärken will. Oft habe ich das in diesen Tagen erlebt, wie hilfreich und stärkend es ist, einfach ein solches Wort weiterzugeben, habe es auch an mir selbst erfahren. Vor einigen Tagen bekam ich Worte der „Ermutigung“ von einem Freund geschickt. Die gebe ich jetzt einfach einmal weiter. Vielleicht stärken sie jemanden, der sich gerade müde und erschöpft fühlt?

„Du, lass dich nicht verbrauchen, gebrauche deine Zeit. Du kannst nicht untertauchen. Du brauchst uns und wir brauchen deine Heiterkeit. Wir woll’n es nicht verschweigen in dieser Schweigezeit. Das Grün bricht aus den Zweigen, wir wollen das allen zeigen. Dann wissen sie Bescheid.“ (Wolf Biermann)

Pastorin Dr. Wiebke Bähnk

05. Mai 2020 · Kategorien: Andacht

„Ersatzverkündung Landesverordnung über Maßnahmen zur Bekämpfung der Ausbreitung des neuartigen Coronavirus Sars-COV-2, verkündet am 1. Mai, in Kraft ab 4. Mai 2020.“ Ein abstrakter Titel, für Nicht-Juristen geradezu ein „Wortungetüm“. Aber es verbirgt sich eine gute Nachricht dahinter. Seit dem 4. Mai ist es den Religionsgemeinschaften wieder erlaubt, Gottesdienste zu feiern. Nicht nur per Live-Stream, im Fernsehen, Radio oder durch das Anhören von Audio-Gottesdiensten und Predigten über Gemeindewebsites. Sondern in realer menschlicher Gemeinschaft, an einem Ort, in einem Raum zusammen. Vielen Menschen hat der gemeinschaftliche Gottesdienst sehr gefehlt, das habe ich oft gehört in dieser Zeit. Ich gehöre auch zu ihnen.

In der Apostelgeschichte heißt es von der Urgemeinde in Jerusalem: „Und sie waren täglich einmütig beieinander im Tempel..“. (Apg 2,46) So sehr die Verbundenheit zwischen uns Christinnen und Christen eine geistlich begründete und deshalb auch Zeit und Raum übergreifende ist, so sehr brauchen wir auch die greifbare, unmittelbare menschliche Gemeinschaft zwischen Gläubigen, die Stärkung durch das Zusammensein, durch gemeinsames Hören auf das Evangelium und gemeinsames Gebet, durch die Versammlung an einem Ort, an dem wir einander sehen und hören können. Und gemeinschaftlich vor Gott da sind. Dass wir das über Wochen nicht erleben und erfahren konnten – erstmalig in der Geschichte der Christenheit -, hat, so scheint es mir, die geistliche Notwendigkeit auch der im Gottesdienst gelebten Gemeinschaft für den Glauben noch deutlicher gemacht.

Für die Feier des Gottesdienstes gibt es etliche Vorgaben zu beachten: Einhaltung von Abstandsregeln, eine bestimmte Anzahl von Feiernden pro Kirche, kein Gesang, Namensliste zur Nachverfolgung eventueller Infektionsketten, Maskenpflicht. Um einer Ausbreitung von Corona mit vorzubeugen notwendig und selbstverständlich. In der Innenstadtgemeinde ist alles bedacht und bestens vorbereitet, so daß wir am kommenden Sonntag das erste Mal seit Anfang März wieder Gottesdienst gemeinsam an einem Ort feiern können.

Mir geht ein Weihnachtslied durch den Sinn, das von der Vorfreude auf lange Entbehrtes und umso freudiger Ersehntes singt: Welch ein Jubel, welch ein Leben wird in unserem Hause sein.. Wie wird dann die Stube glänzen von der großen Lichterzahl! Schöner als bei frohen Tänzen ein geputzter Kronensaal.. Ganz so wird es in St. Laurentii nicht aussehen, sicher, aber alles wird vorbereitet sein zum gemeinsamen Feiern. „Kommt, es ist alles bereit.“ Im Namen dessen, der uns alle zu sich lädt, in dessen Namen wir uns versammeln, im Namen Jesu Christi, geben wir diese Einladung weiter: St. Laurentii, Sonntag, 10. Mai, 10.00 Uhr.

Pastorin Dr. Wiebke Bähnk

02. Mai 2020 · Kategorien: Andacht

Überall lange zu warten, das sind wir nicht gewohnt. Zumindest für all diejenigen, die im Westteil Deutschlands aufgewachsen sind, gehören „Schlangen“ nicht so sehr zur alltäglichen Erfahrung. Beim Hausarzt kann es mal eine Wartezeit geben. Aber vor der Post, gar vor einem riesigen Lebensmittelladen, in den eben nur so viele Menschen hinein dürfen, wie es Einkaufswagen gibt? Das Warten fällt nicht allen gleich leicht. Zumal ja auch die Unterhaltung in der Warteschlange durch den Abstand und die Masken, die nicht alles Gesprochene noch deutlich „durchlassen“, erschwert ist. Die Zeit in der „Schlange“ wird schnell lang, mancher fängt an zu murren und sich zu ärgern.

Als ich darüber nachdachte, habe ich mich daran erinnert, wie der östereichische Schriftsteller Karl-Heinrich Waggerl in berührender Weise über die Adventszeit in seiner Kinderzeit schreibt. Seine Aufgabe war es Jahr um Jahr, den Teig zu rühren für Kuchen und Gebäck, das seine Mutter buk. Wie lange er rühren sollte, mass sie in der „Zeiteinheit“ „Vaterunser“. Wenn er sieben Vaterunser gebetet und dabei gerührt hatte, war der Teig gut.

Nun geht es nicht darum, nach dem Warten vor dem Lebensmittelladen zu sagen: „Jetzt habe ich fünf Vaterunser lang gewartet.“ Aber was wäre denn mit dem Gedanken, diese Wartezeit einfach als geschenkte Zeit zu sehen, gerade auch für das Beten mitten im Alltag? Die Mystikerin Madeleine Delbrel hat dazu aufgefordert, immer wieder im Alltäglichen sogenannte „Zeitmulden“ zu finden, in denen wir beten können: „Unser Kommen und Gehen, …, die Augenblicke, da wir zu warten gezwungen sind – am Schalter, im Autobus -, das sind Gebetsmomente, die für uns bereitet sind…“, hat sie geschrieben. Gott schenkt uns mit diesen „Zeitmulden“ einen „Atemzug“, einen Moment, der uns und ihm gehört. Und auch den Menschen, für die wir Gott im Gebet danken oder bitten. Ich bin sicher, so eine „Zeitmulde“ für das Gebet findet sich auch vor der Post oder dem Lebensmittelladen. Einen Versuch ist es auf jeden Fall wert.

Pastorin Dr. Wiebke Bähnk