Seit Tagen geht mir dieser kurze Satz im Kopf herum: “Das Wir gewinnt.” Es ist der Slogan der “Aktion Mensch”. Heute leihe ich ihn mir einmal, weil er so schön kurz und knapp auf den Punkt bringt, worum es in diesen Tagen geht. Schon vor Wochen sagte ein Epidemiologe vom Braunschweiger Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung, Michael Meyer-Hermann, es gäbe eine entscheidende Voraussetzung für die Eindämmung der Pandemie: eine Kultur der Rücksicht aufeinander. Das bedeutet, dass nicht das Ich im Zentrum der Wahrnehmung steht und die jeweilig persönlichen Entscheidungen prägt, sondern das Wir, die Gemeinschaft, die Gesellschaft; diejenige unseres Landes, aber auch weit darüber hinaus.
Nach einer langen Phase, in der wir es gewöhnt waren, dass wir nahezu unbegrenzte persönliche Freiheiten haben, die Möglichkeiten jedes Einzelnen im Zentrum standen, lernen wir jetzt nachdrücklich und „auf die harte Weise“, dass und wie unser jeweiliges Verhalten Konsequenzen für die Gemeinschaft hat. Wie ich mich in der Impffrage entscheide, hat eben nicht nur für mich Bedeutung. Und mein Verhalten im Alltag auch nicht. Diese Erkenntnis ist nicht neu, die Klimakrise, die weltweite Ernährungsproblematik, das Artensterben, alle ökologischen Probleme zeigen uns, dass – um es so umfassend zu sagen – letztlich alles mit allem zusammenhängt. Und wir hängen auch mit allem und allen zusammen und mitten drin.
In bezug auf die christliche Gemeinschaft hat der Apostel Paulus für diese geradezu organische Zusammengehörigkeit das Bild vom Leib und seinen vielen Gliedern verwendet. Wir alle sind Glieder an einem Leib , “wir sind durch einen Geist alle zu einem Leib getauft” (1. Korinther 12,13), heißt es bei ihm. Und wie wir als ganze Personen leiden, wenn uns auch nur ein Körperteil schmerzt, so geht es auch diesem Gemeinschafts-Leib: “Wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit”. Aber auch umgekehrt: Das Wohlbefinden eines Körperteils überträgt sich auf den ganzen Leib, die Freude, das Wohlverhalten einer Person überträgt sich auf die Gemeinschaft.
Auch wenn es uns vielleicht weniger bewusst ist, die letztlich untrennbare Verbundenheit, die dieses Bild vom Leib ausdrückt, trifft nicht weniger auf unsere menschliche Gemeinschaft insgesamt zu. Verantwortlichkeit füreinander, Rücksicht, Achtung sind eigentlich selbstverständliche Konsequenzen aus der Wahrnehmung tiefer menschlicher Verbundenheit. Und wo diese Wahrnehmung schwer fällt, bleibt zumindest noch die Erkenntnis einer erheblichen Abhängigkeit voneinander.
“Das Wir gewinnt.” Und zwar nur das “Wir”. Das “Ich” allein hat schon verloren. Ob wir es wahrhaben wollen oder nicht. Dazu zuletzt ein “Gebet” der Dichterin Mascha Kaléko:
Es wohnen drei in meinem Haus –
Das Ich, das Mich, das Mein.
Und will von draußen wer herein,
So stoßen Ich und Mich und Mein
ihn grob zur Tür hinaus.
Stockfinster ist es in dem Haus,
Trüb flackert Kerzenschein. –
Herr: lass dein Sonnenlicht herein!
Dann geht dem Ich, dem Mich, dem Mein
Das fahle Flämmchen aus.
Pastorin Dr. Wiebke Bähnk