Gestern habe ich meine Freundin in Hamburg besucht. Sie lebt in einem Seniorenheim. Immerhin gibt es dort bereits seit Wochen die Möglichkeit, daß Angehörige und Freunde die Bewohner am Gartenzaun treffen, zwei Meter Abstand und frische Luft sind dabei immer gewährleistet. So saßen wir uns gegenüber, konnten uns ansehen, auch miteinander sprechen. Für die kreative Lösung im Umgang mit dem viele Wochen währenden Besuchsverbot und die Ermöglichung eines Besuchs auch für mich als Freundin bin ich dankbar. Auch für alle umsichtigen Maßnahmen, die zum Schutz der besonders durch Corona gefährdeten Bewohner der Senioren- und Pflegeheime ergriffen wurden. Der Einsatz der Leitungen und Pflegekräfte in den Heimen ist immens gewesen und ist es noch, der Druck auf die Leitungen in bezug auf die Schutzmaßnahmen erheblich. Das alles macht es mir menschlich nachvollziehbar, wenn in einigen Heimen auch keine so kreativen Lösungen für die Kontaktaufnahme der Bewohner gefunden wurden wie in dem Heim in Hamburg.
Aber nicht nur nach den Lockerungen vom 4. Mai und vom 6. Juni stellt sich die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen, danach, inwieweit das, was zum Schutz der älteren Menschen dienen soll, ihnen mittlerweile deutlich zum Nachteil gereicht, gar selbst gesundheitsgefährdend wird. Umfragen unter Angehörigen von Heimbewohnern haben ergeben, daß es vielfältige gesundheitliche Folgeschäden der Isolation gibt: verringerte kognitive Fähigkeiten, geringere Mobilität, Gewichtsabnahme, Zunahme von Depressionen.
Trotz der Besuchsmöglichkeit am Zaun ist meine Freundin traurig, weint viel, mag nicht essen; die mit Parkinson einhergehende Depression verstärkt sich. Als wir uns am Zaun gegenüber sitzen, ist durch den Abstand die Verständigung nicht leicht, nicht immer kann meine Freundin mich verstehen. Und sie fühlt sich eingesperrt, ihrer Freiheit beraubt, sehnt sich nach dem Park, wo wir in einem kleinen Café unter einer großen Kastanie sitzen, sie ihrem Enkel beim Spielen zuschauen kann.
Als wir am Zaun zusammen sitzen, trainieren auf dem Sportplatz hinter uns etwa dreißig Kinder Fußball. Das sieht nicht wirklich wesentlich anders aus sonst; hier scheint die „Normalität“ weitgehend wieder eingekehrt. Die Bewohnerinnen in Seniorenheimen sind davon meistens noch weit entfernt. Ihnen fehlt oft die Kraft, sich für Veränderungen einzusetzen, auch den Angehörigen, die sich nicht selten hilflos fühlen, wie ich aus eigener Erfahrung nur zu gut weiß. „Tu den Mund auf für die Stummen und für die Sache derer, die verlassen sind“, heißt es im Buch der Sprüche (31,8). Diese Aufgabe zu übernehmen tut gerade jetzt not, damit sich nicht die, die wir schützen wollen, von uns verlassen fühlen.
Pastorin Dr. Wiebke Bähnk