„Wir werden einander vieles zu verzeihen haben.“ Diese für einen Minister nicht selbstverständlichen Worte sagte Jens Spahn vor einiger Zeit. Sie sind mir nicht aus dem Kopf gegangen. Denn sie machen deutlich, wie bewusst es ihm und sicher vielen anderen Entscheidungsträgern ist, daß sie immer nur aus einer begrenzten Einsicht heraus handeln und Maßnahmen verordnen können, daß alles, was an Einschränkungen und Lockerungen geschieht, Abwägungssache ist und bleibt. Und daß dabei die menschliche Fehlbarkeit zu berücksichtigen ist, daß Gutes gewollt und dabei Schwieriges, Problematisches, Beeinträchtigendes für Menschen in Kauf genommen werden muss. Gut ist, daß Entscheidungen in unserem Land nicht einsam getroffen werden, daß sie aus Beratung, Diskurs und oft auch öffentlich erkennbarer Abwägung heraus entstehen.
Und dennoch gibt es Situationen, in der sich die Frage nach den Kriterien der Abwägung, nach der Verhältnismäßigkeit, stellt: Wenn Angehörige zu ihren sterbenden Müttern, Vätern, Partnern nicht mehr ins Krankenhaus gelassen werden. Eigentlich ist Besuch bei Sterbenden für eine Person erlaubt. Aber wenn die Ärzte und Pflegekräfte, vielleicht aus Überlastung, nicht erkennen, daß jemand im Sterben liegt. Dann stirbt ein Mensch allein. Und die Angehörigen bleiben zutiefst verstört zurück. Ich habe das in diesen Wochen mehrfach in der Begleitung Trauernder miterlebt. Oder wenn Seniorenheime nur mit Verzögerung und dann äußerst restriktive Besuchskonzepte erarbeiten, Menschen in Heimen deshalb seit über zehn Wochen keinen Besuch mehr bekommen. Wenn auch alle kreativen Möglichkeiten des Sichsehens, z.B. auf der Straße vor dem Fenster, abgeblockt werden, eine vollmundig angekündigte Möglichkeit zur Videotelefonie daran scheitert, daß nicht bedacht worden ist, daß es in dem Heim kein W-Lan gibt. Und die Angehörigen nicht als Partner in der gemeinsamen Bewältigung der Situation verstanden werden – z.B. durch die Bitte, Masken zu nähen, oder die selbstverständliche Einladung, wenigstens vor dem Gartenzaun den Bewohnern zuzuwinken oder Musik zu machen – sondern als zusätzliche Zumutung. Das erlebe ich im Umgang mit dem Seniorenheim, in dem mein Vater lebt.
„Wir werden einander vieles zu verzeihen haben“. Ja. Das ist so. Vergebung ist, GottseiDank, eine der Kerndisziplinen des Glaubens. Im Predigttext für den heutigen Sonntag heißt es als Aufforderung an uns Christen: „… ertrage einer den anderen und vergebt euch untereinander, wenn jemand Klage hat gegen den andern; wie der Herr euch vergeben hat, so vergebt auch ihr.“ (Kol 3,13) Wenn ich mir bewusst mache, daß ich selbst aus der Vergebung lebe – aus derjenigen Gottes und genauso auch aus der der Menschen – stellen Sie sich nur vor, jeder würde jedem alles nachtragen: keiner von uns könnte leben -, lässt mich das anders auf die Menschen schauen, mit denen ich in solchen Situationen zu tun. Das Wissen um meine Fehlbarkeit und die geradezu Lebens-Notwendigkeit dessen, daß mir vergeben ist und wird, verändert meinen Blick auf sie. Ich trage ihnen als Personen nichts nach, kreide es ihnen nicht persönlich an. Zumindest bitte ich Gott immer wieder darum, daß Er mir das möglich macht.
„Vergebt euch untereinander“. Vergebung heißt, den anderen als Menschen anzunehmen, in aller Begrenztheit und Fehlbarkeit, die ich ja bei mir genauso sehe. Vergebung heißt aber nicht, „Ja und Amen“ zu allem zu sagen, was der andere entscheidet, tut, sagt. Infragestellung, Widerspruch, Engagement für Veränderungen, wo Regelungen das Leben von Menschen über die Maßen beeinträchtigen, tun Not. Mehr denn je. Nur im Geist der Vergebung müssen sie ausgesprochen werden, der nicht die Menschen verunglimpfen, sondern die Dinge wandeln will.
Pastorin Dr. Wiebke Bähnk