Bilder von Demonstranten, die ohne Wahrung der Abstandsregeln, ohne Mund-Nasen-Schutz in großer Zahl zusammen kommen, gab es am Wochenende aus mehreren Großstädten Deutschlands. Menschen mit verschiedensten Hintergründen, die eines eint: „Irgendwie“ sind sie gegen die Maßnahmen zum Schutz vor Corona. Darunter sind nicht wenige Verschwörungstheoretiker mit ihren kruden Ideen, zusammengebastelt aus zweifelhaften „Informationen“ und in eine hermetische Weltsicht eingebettet. Und natürlich macht sich auch die Rechte den Protest zunutze. Wie könnte es anders sein. Daß ausgerechnet sie allerdings meinen für die Wahrung der Grundrechte einzustehen, hat etwas Skurriles, Lachhaftes. Nur daß keinem zum Lachen darüber zumute ist. Im Gegenteil. Die hier geäußerten Parolen lassen mich an die Bitte des Königs Salomo denken, die heute passenderweise die Tageslosung in den Herrnhuter Losungen ist. Als Gott ihn fragt, was der König sich von ihm wünsche, antwortet dieser ihm: „Du wollest deinem Knecht ein weises Herz geben.“ (1. Kön 3,9)
Weisheit ist die Fähigkeit der vernünftigen Abwägung. Darin ist sie eine im wahrsten Sinne des Wortes bedachte und ruhige Tugend. Sie speist sich aus der eigenen Lebenserfahrung und aus Wissen, das durch eigene Erkenntnis und durch den Rat und die Erkenntnisse anderer Menschen entsteht. Sie weiß auch um die Begrenztheit der eigenen Einsichten, fragt deshalb dort um Rat, wo Kompetenz und die jeweils benötigten Kenntnisse zu erwarten sind. „Der Weise hört auf Rat“, so heißt es im Buch der Sprüche (Spr 12,15). Verschwörungstheoretiker und Anhänger ideologischer Weltsichten lassen sich zumeist in keiner Weise durch fachmännischen Rat von ihren Ansichten abbringen. Die Maßnahmen des Bundes und der Länder, die Äußerungen der verantwortlichen Politiker beruhen hingegen erkennbar weitestgehend auf fachlicher Beratung durch genau auf dem Gebiet der Virologie ausgewiesene Wissenschaftler. Und ebenso erkennbar auf dem Bemühen, immer wieder neu die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen abzuwägen und ihre gravierenden „Nebenwirkungen“ zu bedenken.
Sicher ist nicht jede Maßnahme „weise“. Und sicher auch nicht jede konkrete Umsetzung im Alltag. Aber Weisheit als Fähigkeit der vernünftigen Abwägung ist die Haltung, die jetzt not tut. Für jeden von uns. Denn Weisheit heißt auch, den Blick auf das Gute zu richten. „Ich will aber, daß ihr weise seid zum Guten“, fordert der Apostel Paulus die Christen auf. (Röm 16,19) Und das Gute kann nie das sein, was den einen nützt, den anderen aber gravierend schadet, nie das, was unverantwortlich mit dem Leben anderer umgeht. Oder um es mit Albert Schweitzer positiv zu formulieren: „Gut ist, Leben zu erhalten und zu fördern.“ Diesen ethischen Maßstab als grundlegend festzuhalten und auch das eigene Verhalten, die eigenen Haltungen immer wieder an ihm zu messen, mit seiner Hilfe abzuwägen – das könnte schon als ein kleines bißchen notwendige „Weisheit“ in diesen Zeiten durchgehen.
Pastorin Dr. Wiebke Bähnk